DER KLANG DES EISES

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Wer zu Chiles Eisfeldern reist, erlebt die majestätische Stille der Gletscher – und ihr geräuschvolles Schmelzen.

TEXT ROBERT DRAPER FOTOS TAMARA MERINO

Der chilenische Leones-Gletscher gehört zu einem der größten Eisfelder der Erde. Seen, die sich immer weiter ausdehnen, und das Knacken und Krachen des kalbenden Eises beweisen den zunehmenden Gletscherschwund in Patagonien.

”ICH BIN DER WACHTER DER GLETSCHER“, sagt Andrea Carretta. Er meint das nicht als Prahlerei, sondern als einfache Bestätigung seines Dienstes. Langsam lässt sich der 46-jährige Ranger auf ein Knie herab. Mit leiser Stimme bittet er den Gletscher um Erlaubnis, uns auf das abgelegene Eisfeld zu führen.

Wir befinden uns am Zugang zum Exploradores-Gletscher im südchilenischen Nationalpark Laguna San Rafael. Es ist Anfang September, eine Saison mit weniger Regen und weniger Touristen. Graue, geschwollene Wolken ziehen über uns hinweg. Wir schnallen uns Steigeisen an die Wanderschuhe. Der dichte Wald fällt zurück, als wir uns einen Weg durch das glitschige Moränensediment bahnen, das plötzlich in ein Panorama verwirbelter blassblauer Eismassive und minzgrüner Gletscherwasserläufe übergeht. Die Urgewalt des Exploradores nötigt selbst einem Mann wie Carretta Respekt ab, der den Gletscher täglich zu Fuß besucht und viele Abende in einer Hütte bei Feuerschein und Konservenessen am Gletscherrand verbringt. Mir als erstmaligem Besucher scheint der Gletscher schön, aber auch Furcht einflößend, wie jede unbezwingbare Naturgewalt.

Daher wirkt es erschütternd, wenn Carretta sagt: „Der Gletscher stirbt.“ Seine Worte klingen so sachlich wie zärtlich. Carretta kam in den italienischen Alpen zur Welt. Er ist ein erfolgreicher, aber auch eigensinniger Bergsteiger, der 2016 sein Paradies in Patagonien fand und mit Frau und Sohn nach Chile zog. Sie akzeptieren, dass sein Herz geteilt ist. „Ich weiß, dass der Gletscher mich liebt“, sagt er.

Nun ist es sein Los, mit Sensoren den steten Schwund des Gletschers zu messen, um etwa einen Meter pro Jahr. Carretta kann es sehen. Wo einst Eis war, sind heute Tümpel. Darin liegt kein Geheimnis: Das Abschmelzen der Gletscher Patagoniens fällt mit dem Temperaturanstieg zusammen, der wiederum mit der Zunahme an Kohlenstoffemissionen während der letzten 50 Jahre korreliert.

„Den Touristen, die hierherkommen, um ein schönes Foto zu machen, sage ich: ,Machen Sie Ihr Foto, und kommen Sie in fünf Jahren wieder und machen Sie wieder eins, damit Sie den Unterschied so sehen können, wie ich ihn sehe‘“, sagt er. „Vielleicht gibt es ja n

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