EINE HANDGEMA CHTE Welt

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NACH MEHR ALS BISHER 19 000 WANDERKILOMETERN UM DIE ERDE ERLEBT UNSER REPORTER EIN CHINA, WIE ES VOR DER ZEIT DER MEGACITYS UND HANDY-FABRIKEN WAR.

TEXT PAUL SALOPEK FOTOS ZHOU NA U N D GILLES SABRIÉ

In der Nähe der Stadt Tengchong an der Grenze zu Myanmar pflücken Arbeiter Ringelblumen für ätherische Öle und traditionelle chinesische Medikamente. Durch Abwanderung in die Städte und den Bau von Autobahnen und Eisenbahntrassen verschwinden in der ländlichen Provinz Yunnan uralte Fertigkeiten.
FOTO: ZHOU NA

DIE VERGANGENEN ZEHN Jahre meines Lebens habe ich damit verbracht, zu Fuß um die Welt zu laufen. Ich werde gefragt: „Wie sehen die großen Probleme unserer Zeit aus – vom Boden aus betrachtet?“ Oder: „Hat das Laufen etwas daran verändert, wie du aktuelle Ereignisse bewertest?“ Einfacher gefragt, oft von Schulkindern: „Irgendwelche Überraschungen?“

Über manche Fragen muss ich nicht lange nachdenken: Die Antworten spüre ich seit 25 Millionen Schritten (oder mehr als 19 000 Kilometern) in meinen Knochen wie die stetigen Schläge eines Metronoms. Ich kann zum Beispiel bestätigen, dass Homo sapiens die Ökologie unseres Planeten in einem derart radikalen Maß verändert hat, dass wir unter Massenschlaflosigkeit leiden müssten – nicht nur unter schlechtem Gewissen, sondern regelrechter Angst. So kann ich denkwürdige Begegnungen mit wilden Tieren in den über 3500 Tagen und Nächten, die ich von Afrika nach Ostasien unterwegs war, an Fingern und Zehen abzählen. Das folgenschwerste Unrecht, das ich in allen menschlichen Kulturen aus der Nähe erlebt habe? Ganz einfach: die Fesseln, die Männer dem Potenzial der Frauen anlegen. Grausam, willkürlich. Wer ist immer unterbezahlt? Wer ist in der Regel schlechter ausgebildet? Wer wacht als Erste morgens auf und fängt an zu schuften? Wer begibt sich als Letzte zur Ruhe? Unterdessen wird jede Plauderei am Wegesrand, ob mit alten kasachischen Bäuerinnen oder bewaffneten kurdischen Guerillas, von Klimasorgen überschattet.

Aber es gibt noch eine unerwartete, vielleicht nicht weniger schmerzliche Entwicklung, auf die ich während meiner langsamen Erzählreise gestoßen bin – meines „Out of Eden Walk“, mit dem ich erzählend den Weg nachvollziehe, auf dem sich unsere Steinzeitvorfahren einst vom afrikanischen Kontinent aus über die ganze Welt verstreut haben: Es ist – nach Tausenden Jahren der Kontinuität – die Auslöschung von Landschaften, die die Menschen mit der Kraft ihrer eigenen Muskeln geformt hatten.

Damit meine ich das allmähliche Verschwinden jener Winkel der bewohnten Erde, die noch nicht d


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