WILDES LAND

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DIE GILA WILDERNESS IM US-BUNDESSTAAT NEW MEXIKO IST EIN FASZINIERENDES SCHUTZGEBIET. DOCH IST DER ORT WILD? UND WAS IST DAS ÜBERHAUPT, UNBERÜHRTE NATUR?

TEXT PETER GWIN FOTOS KATIE ORLINSKY

Tiefe Schluchten kennzeichnen die Gila Wilderness: Das zerklüftete Land im US-amerikanischen Bundesstaat New Mexico war einst von Apachen bewohnt. 1924 wurde das Areal offiziell zur ersten „Wilderness Area“ der Welt: Menschen dürfen das Gebiet besuchen, aber keine Spuren hinterlassen.

WIR KAMPIERTEN in einem Hain aus Kiefern und hatten mit dem Totholz ein Lagerfeuer entzündet. Die Pferde waren für die Nacht versorgt, die Teller leergekratzt. Wir hockten auf unseren Satteldecken, zusammengekauert gegen die Novemberkälte, und warteten darauf, dass das Kaffeewasser kochte. Die Schatten, die das Feuer warf, hoben und senkten sich auf den riesigen Baumstämmen.

Joe Saenz, unser Tourguide, ein Apache, der wie seine Vorfahren das Land durchritten hatte und dessen Geheimnisse kannte, erzählte die Geschichte von einem Wolf, der einst nicht weit von hier getötet worden war. Joe sprach in einem langsamen, bedächtigen Rhythmus, der jedem seiner Worte Gewicht verlieh. Und dann heulte ein Wolf. Der Ruf erhob sich aus der Nacht, als hätte das Erzählen der Geschichte ihn heraufbeschworen.

Das Heulen kam überraschend, denn in den vergangenen Tagen hatten wir so gut wie gar nichts gehört. Je tiefer wir in dieses Land eindrangen, desto mehr schien es, als schluckten die Wälder und Canyons jedes Geräusch. Wenn wir in die Schluchten hinabritten, hatte ich bisweilen das Gefühl, taub geworden zu sein oder zu träumen. Doch nun löste das Heulen etwas aus, und plötzlich nahm ich jedes Geräusch wahr – das Knistern des Feuers, das Schnauben der Pferde, meinen Atem. Instinktiv blickten wir nach oben und versuchten, das Tier an der Kammlinie ausfindig zu machen. Doch alles, was wir sehen konnten, waren die Silhouetten der Bäume in blassem Sternenschein. Wir warteten darauf, dass der Wolf erneut heulte oder dass ein anderer Wolf antworten würde. Doch es blieb still.

Die Geschichte, die Joe erzählte, ging so: Im Jahr 1909 war ein junger Förster als Landvermesser in der südwestlichen Ecke des New-Mexico-Territoriums unterwegs. Nicht weit von unserem Lager entfernt machten er und einige seiner Mitarbeiter Rast. Sie entdeckten im Canyon eine Wölfin und ihre Jungen, griffen zu den Gewehren und erschossen sie. Wölfe galten damals als Schädlinge, die Rinder und Hirsche rissen. Gegen Ende seines Lebens notierte der Förster: „Wir gelangten noch rechtzeitig zu der Wölfin, um zu sehen

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