DISKUSSIONEN, DISKURSE, DEBATTEN: WIR KÖNNEN KAUM MEHR GEMEINSAM EINFACH NUR NETT AM TISCH SITZEN, OHNE DASS MAN SICH POSITIONIEREN MUSS. UNSERE AUTORIN FINDET DESHALB, DASS MAN AUCH MAL NICHTS „FINDEN“ DARF!
TEXT: SARAH KESSLER
„Klimakleber sind die wahren Terroristen!“, ruft mein Onkel Harald empört und stützt die rechte Faust in seine Hüfte. Er erzählte gerade, dass er vor ein paar Monaten seinen Malle-Flieger verpasste und deshalb das Wochenende Sonnetanken ausfallen musste „Sarah, jetzt sag doch auch mal was!“, schaut er mich fordernd an. „Was musst du denn auch für zwei Tage nach Mallorca fliegen – genau wegen so einem Umwelt-Egoismus machen die das doch!“, will ich antworten – aber beiße mir auf die Zunge. Es ist Weihnachten. Herzlich willkommen zu Hause.
Es gibt keinen Mittelweg
In unserer vernetzten Welt werden wir täglich mit einer schier unendlichen Menge an Informationen konfrontiert – privater Natur, mit globalem Informationsgehalt oder aus der Kategorie unnützes Wissen. Zu all diesen Themen brauchen wir eine Meinung – am besten sofort: War die Gucci-Kollektion jetzt echt so Avantgarde oder langweilig? Erleichtern verkaufsoffene Sonntage das Leben oder sind sie doch ein fieses Schnippchen, das uns der Kapitalismus schlägt? Und mindern die Maßnahmen der Letzten Generation wirklich die Akzeptanz für den Klimaschutz? In unserer Diskussionskultur ist eine Meinung auch eine Entscheidung – dafür oder dagegen. Graubereiche sind out.
Meinen bedeutet nicht wissen
So befinden wir uns in einem ständigen Strudel der Meinungsäußerung, ohne uns dabei immer argumentativ wohlzufühlen. Nicht nur, dass wir in dieser Hektik die Bedeutung von Expert*innen oft vernachlässigen und uns stattdessen auf Halbwissen und Vorurteile stützen, weil uns Zeit und Muße für eine umfassende Recherche fehlen. Wir sind on top schlichtweg überfordert, uns auf eine Position festlegen zu müssen – zumindest, wenn es nicht um wirklich klare Standpunkte wie gegen Rassismus oder Antisemitismus etc. geht, bei denen man sich nie raushalten darf.
Rund 20.000 Entscheidungen treffen wir täglich, schätzen Psycholog*innen. Das klingt zunächst viel, aber rechnet man jeden angefangenen Satz, jedes Like eines Instagram-Posts,